blog
EnergiewendeAnti-AtomkraftKommentar: "Es ist unseriös, die Kosten und Risiken der Atomkraft kleinzurechnen!"

Kommentar: „Es ist unseriös, die Kosten und Risiken der Atomkraft kleinzurechnen!“

Das Schicksal der Stromerzeugung durch Atomenergie ist in Deutschland besiegelt, nach 2022 ist Schluss. Das ist Fakt. „Fake“ hingegen ist: Mit AKW-Laufzeitverlängerungen oder gar neuen Reaktoren könnten wir der Erderhitzung wirksam begegnen. Entsprechende Geisterdebatten werden zwar durch eine Handvoll Nuklear-Nostalgiker medienwirksam inszeniert, doch mit der energiepolitischen Realität hat das nichts zu tun.

Von Sönke Tangermann

Es kommentiert Sönke Tangermann, Vorstand Greenpeace Energy. Foto: Christine Lutz / Greenpeace Energy eG; Foto oben: Greenpeace

Selbst die Betreiberkonzerne haben kein Interesse mehr am Ausstieg aus dem Atomausstieg. Daran ändern auch die Fantasien einiger versprengter Lobbyisten über wundersame neue Atom-Technologien nichts: Kernfusion? Selbst bei weiteren hohen Forschungs-Investitionen vermutlich nicht vor 2050 kommerziell nutzbar. Die sogenannte „Transmutation“, die angeblich Atommüll reduziert, indem sie ihn als Brennstoff nutzt? Ebenfalls nicht erprobt – und auch hier lägen die Realisierungskosten im zwei- bis dreistelligen Milliardenbereich.

Und was ist mit dem Bau „moderner“ Reaktoren wie dem europäischen Druckwasserreaktor EPR? Dort, wo er gebaut wird, lässt er Zeit- und Kostenpläne explodieren. Allein das AKW Hinkley Point C in England dürfte mehr als 100 Milliarden Euro an staatlichen Subventionen verschlingen. Und ohne üppige Finanzierungshilfe aus Russland könnte auch Ungarns Premier Orban sein nukleares Prestigeprojekt Paks II nicht verwirklichen. Dabei ist längst belegt: Hier wie dort könnten Energie-Systeme mit viel Windkraft und einer flexiblen Wasserstoff-Speicherinfrastruktur die gleichen Strommengen bereitstellen – sicherer, genauso verlässlich, aber dabei deutlich billiger.

Wer ehrlich auf die Kosten und Risiken schaut, für den kann es nur den Ausstieg aus dem Atomstrom geben. Auch in Deutschland war das ein langer – und teurer – Lernprozess. Die Studie des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (FÖS) rechnet es vor: Seit 1955 hat der deutsche Staat die Atomwirtschaft real mit fast 290 Milliarden Euro an direkten Förderungen subventioniert. Die so genannten gesamtgesellschaftlichen Kosten summieren sich sogar auf mehr als eine Billion, konservativ geschätzt. Dass Atomlobbyisten solche Zahlen nicht gerne hören, ist klar – und es ist auch nichts Neues, dass sie immer wieder versuchen, Ergebnisse und Methodik von Studien wie dieser in Zweifel zu ziehen.

Reaktor-Bauprojekt Hinkley Point C in England: 100 Milliarden Euro für ein einziges Kraftwerk. Foto: Jiri Rezak / Greenpeace

Doch in eine ehrliche Betrachtung gehören nun mal die auf die Gesellschaft abgewälzten (und für die Verbraucher meist gut versteckten) Kosten der Atomenergie mit hinein – gerade für den fairen Vergleich mit anderen Energieerzeugungsarten. Beispiel Atomhaftung: Die gesetzlichen Entschädigungssummen, die AKW-Betreiber für den Ernstfall vorhalten müssen, sind mit 2,5 Milliarden Euro lächerlich klein im Vergleich zu den immensen Schäden, die ein tatsächlicher Nuklearunfall hierzulande verursachen würde. Die Schätzungen dafür gehen in die Billionen.

Die Gesellschaft, jeder von uns, übernimmt hier also dauerhaft ein Risiko, das eigentlich von der Versicherungswirtschaft geschultert werden müsste. Die aber ist nicht bereit, AKWs zu halbwegs bezahlbaren Konditionen abzusichern. Warum wohl? Belastbare wissenschaftliche Studien kalkulieren hier mit einer 50-prozentigen Wahrscheinlichkeit, dass alle 60 bis 150 Jahre tatsächlich Katastrophen in der Größenordnung von Fukushima eintreten – und die müssen nicht unbedingt durch technisches oder menschliches Versagen ausgelöst werden. Terroranschläge auf Atomanlagen sowie Schäden durch Extremwetterereignisse oder Waldbrände sind auch bei uns leider keine absolut unrealistischen Szenarien mehr.

Deckungsvorsorge gemessen an den tatsächlichen potenziellen Kosten eines Atomunfalls. Quelle: FÖS

Das FÖS hat all das methodisch korrekt und realistisch in die gesamtgesellschaftlichen Kosten eingepreist. Wie auch jene Summen, mit denen die Atomwirtschaft jahrzehntelang direkt aus dem Staatshaushalt gepäppelt wurde. Und natürlich rechneten die Studienautoren auch den Verkaufspreis des Atomstroms in die Kosten für die Gesellschaft ein. Denn diese Preise wurden schließlich von allen Verbrauchern bezahlt – während lediglich ein paar Energiekonzerne daraus jahrzehntelang saftige Gewinne realisieren konnten.

Am Ende dieser Rechnung kostet die Kilowattstunde Atomstrom ein Vielfaches von dem, was heute für Wind- oder Solaranlagen anfällt. Ja, auch die Erneuerbaren werden gefördert. Der Unterschied ist nur: Sie wurden immer günstiger, sind heute marktfähig. Atomkraft ist und bleibt auch nach 65 Jahren gefährlich, unwirtschaftlich und schlicht zu teuer für eine zeitgemäße Energieversorgung – und hat sich allein damit als Instrument in der Klimakrise disqualifiziert. Verabschieden wir uns deshalb von entsprechenden Fake-Debatten, die letztlich nur zum Ziel haben, den Ökostrom-Ausbau zu diskreditieren.

Dieser Kommentar erschien zuerst im Branchendienst energate. In dem Beitrag antwortete auf Sönke Tangermann auf eine vorangegangene Kritik der Atomlobby.